1993
„Blur“, HGB Leipzig, (solo show)
installation in former boiler room of the fine art college various metal pipes, different objekts made from metal, wire, tracing paper, 14 light sources dimmed by computer programme
concept
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Diese erste Installation war durch eine malerisch plastische Durchdringung des Raumes geprägt. Abstrakte und dennoch organisch wirkende Leuchtkörper entwickelten eine poetische Zwiesprache zwischen Installation und Betrachter.

Durch eine Lichtsteuerung wurden sowohl die Leuchtskulpturen als auch der Raum als gesamte Skulptur zum Atmen gebracht.

1993, „Blur“ (deutsch), Peter Guth

veröffentlicht im Buch "Kodierter Raum/Coded Space" 1997

Die erste Installation von Till Exit war zugleich ein innerer Abschied: Das, was die Akademie vermitteln konnte, war geleistet. Die akademischen Muster allerdings, auf­gehoben in Tradition und Handwerk, kollidierten in völliger Normalität mit der Lebens - und Kunsterfahrung des damals Einunddreißigjährigen. Dass Bilder Zustände fixieren, Statik einschließen und bestimmte Seins-Dimensionen nicht zulassen, war wohl im anvisierten Beruf eine irritierende Erkenntnis.
Im unattraktivsten Raum der Leipziger Kunsthochschule, im ehemaligen Kohlenbunker, dessen Eingeweide entfernt worden waren, hat Exit 1993 mit ›Blur‹ eine Gedankenlandschaft entworfen, die die »Auflösung des bisher sicher Geglaubten« (so der Titel eines Selbstzeugnisses des Künstlers) thematisierte. Dass unsere Existenz keine verbindlichen Sicherheiten mehr kennt, dass Beziehungen, Einsichten, Positionen sich wandeln, aber auch Wandlungen verlangen, kurz: dass von uns in immer stärkerem Maße situatives Verhalten um den Preis unseres Untergangs gefordert wird, war der Anlass, Instabilität und Unsicherheit zu inszenieren. Der englische Begriff ›blur‹ für Trübung, Schleier oder Verschmutzung hat insofern eine aktive und eine passive Bedeutung: Mit ihm wird hingewiesen auf die Trübung von Weltbildern, Interpretationsmodellen und das Schwinden der Fähigkeit der Kunst, auf Welt adäquat zu reagieren, und Exit will selbst tradierte Modelle eintrüben, gewohnte Syntax aus den Angeln heben. Der Raum funktioniert bei ihm nicht mehr als Bühne, sondern als brutales und scharfkantiges Gestrüpp von metallenen Rohrlinien – ein grandioses Symbol für Raum- , Zeit- und Kraftspuren, die keinem linearen Prinzip mehr folgen und in ihrer komplizierten Tektonik auch visuell nie vollständig zu durchdringen sind. Bezugssysteme werden ausgeschaltet, und auch wenn die semantischen Ebenen, Stein, Eisen, Papier oder Licht, noch auszumachen sind, wird die Formulierung eines Zusammenhanges von Gedanken immer wieder absichtsvoll gestört: Mit jeder Bewegung des Betrachters erlebt das Gesamtkonstrukt eine minimal differenzierte Veränderung, der Raum kann bis in seine Negativform kippen – etwa wenn die Heizungsfüchse be­leuchtet, Treppen begangen oder die Durchstechungen überwunden werden. Wenn Exit in diesem Zusammenhang selbst von der »Flüchtigkeit fraktaler Traumsequenzen« spricht, hat er eigentlich Existenz beschrieben: Das Leben – ein Traum.
Das Licht spielt in dieser Inszenierung, die keinerlei spurensuchende, sondern nur spurenlegende Ambitionen hat, eine entscheidende, vielleicht sogar verräterische Rolle: Lichttüten, besser: Lichtberge aus Papier erleuchten oder verlöschen mit unterschiedlicher Intensität im Rhythmus des menschlichen Atems. Die Berge stehen für Lasten, das Licht für das letztlich bildnerisch nicht mehr Darstellbare. Abgesehen von der offensichtlich mystischen Komponente, die allerdings auch den tradierten optimistischen Ausgang kennt, wird hier das ›in­nere Leuchten‹, das Durch - den - Berg - Hindurch, das Per-aspera-ad-astra, das man aus der deutschen Romantik kennt, aufgegriffen. Freilich lohnt es, darauf hinzuweisen, dass die Romantik in der Person Schlegels den Begriff des ›Beynahe‹ kannte, der Till Exits Arbeit wesentlich zugrunde liegt.
Trotzdem ist die Differenz zwischen romantischer Attitüde und der Figuration von Till Exit evident. War Schlegels Generation noch bemüht, mit dem ›Beynahe‹ eine letztlich positiv gestaltbare Möglichkeit im Variantenreichtum des ewigen Chaos zu umreißen, hat Exit für seine Generation mit dieser ersten Arbeit im Raum eine agnostizistische Position bezogen: Die Welt ist nicht erkennbar, die Instrumentarien sind vielleicht darstell-, aber nicht beherrschbar. Dass er damit die, um es mit Vilém Flusser zu sagen, »Alienation« der Künstler und Betrachter befördert, lag zweifellos nicht in seiner Absicht und hat ihn selbst zu einer kritischen Sicht auf ›Blur‹ geführt. »Im Prinzip«, sagt er, »war es völlig egal, ob irgend jemand in dieser Installation stand oder nicht. Sie existierte im Grunde für sich selbst.« Das vielleicht wichtigste Element, das Kunst heute jenseits von Lösungen anbieten muss, hat Till Exit mit ›Blur‹ noch nicht formuliert: die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen.

Peter Guth — Leipzig, Frühjahr 1996